Einige skizzenhaft zusammengetragene Zwischenergebnisse von Maximilian Locher
Die Digitalisierung hält die Gesellschaft auf Trab. Überall stellen sich unzählige Fragen der technischen Implementierung elektronischer Medien. Bei all dieser Fokussierung auf die technischen Fragen der Digitalisierung gerät die dabei vollzogene soziale Transformation häufig aus dem Blickfeld. Doch ist das ein Problem? Was unterscheidet einen technischen Blick auf die Digitalisierung von einem soziologischen? Und was kann ein solcher soziologischer Blick zu Erkenntnissen in Bezug auf die Digitalisierung und ihre konkrete Gestaltung beitragen? Mit diesen Fragen ging das Projekt KILPaD im September 2019 an den Start. Am Ende von 2020 erscheint es an der Zeit, erste Ausblicke auf die Beantwortung dieser Fragen zu geben.
Digitalisierung – der technische Blick
Der technische Blick auf die Digitalisierung fokussiert die weitere Technisierung von Abläufen in der Produktion, dieses Mal auf der Basis elektronischer Medien statt unter bloßer Hilfe der Mechanik. Der Schritt von relativ analogen Verhältnissen, wie beispielsweise mündlichen Absprachen und schriftlich weitergegebenen Produktionsinformationen, in digitale Verhältnisse hat dementsprechend ein vermeintlich einfaches Ziel: Die Produktion soll weiterhin möglichst störungsfrei funktionieren, nun aber mit zusätzlichen Gewinnen hinsichtlich der Produktivität.
Die Digitalisierung wird davon ausgehend als Prozess der technischen Planung und Umsetzung verstanden und damit als Herausforderung für die technischer Expertise des Unternehmens. Zu involvieren sind in diesem Sinne diejenigen, die technischen Sachverstand besitzen: Also Steuerungsentwickler, Ingenieure und Informatiker. Ob im Falle von MES-Projekten, der Einführung neuer Produktionsplaner oder neuer Software – der Schritt der Digitalisierung erscheint vielerorts ähnlich technisch konzeptualisiert ( vgl. hierzu zusammenfassend Abb. 1). Hierin unterscheiden sich die anwendungsnahe Forschung außeruniversitärer Forschungsinstitutionen, IT-Dienstleister und allzu häufig auch die betriebliche Praxis nur wenig.
Die Besonderheiten der Digitalisierung im Mittelstand werden aus dieser Perspektive vor allem als Restriktionen konzeptualisiert. Demnach fehle es im Mittelstand an ausreichendem Budget, Expertise und Manpower für die Umsetzung und an geklärten formalisierten Prozessen. Folglich gehe es in der Digitalisierung im Mittelstand vor allem darum, einen möglichst guten Umgang mit diesen Restriktionen zu finden.
Bevor an einigen Erfolgsfaktoren für die Digitalisierung des Mittelstands dargestellt werden wird, wie der Mittelstand in der Digitalisierung jenseits von Restriktionen in Rechnung gestellt werden kann, soll zuerst dargestellt werden, welchen Unterschied ein soziologischer Blick auf die Digitalisierung generell machen kann und wie er in der Lage ist, die die Suche nach Erfolgsfaktoren zu fundieren.
Digitalisierung – der soziologische Blick
Der systemtheoretisch informierte soziologische Blick auf die Digitalisierung versteht die Digitalisierung, ähnlich wie der technische Blick, als den Schritt vom relativ Analogen ins relativ Digitale. Im Gegensatz zum technischen Blick fokussiert er aber die technische Frage dieses Schritts nur als eine Frage unter anderen. Denn es wird jeweils nicht nur ein einzelner technischer Ablauf digitalisiert, sondern immer auch ein soziales Verhältnis, und das heißt mit Niklas Luhmann die strukturellen Kopplungen zwischen unterschiedlichen Systemen bzw. Identitäten (vgl. ders. 2018, S. 101 f.). Durch die Digitalisierung verändert sich somit grundsätzlich, wie Systeme sich aufeinander beziehen und einander wahrnehmen können. Eine bloße Technikfokussierung verliert diese soziale bzw. kommunikative Dimension der Digitalisierung aus dem Blick.
Für die Digitalisierung in Organisationen tritt hinzu, dass die zu digitalisierenden Kopplungen im Kontext von Entscheidungen stehen (vgl. Luhmann 2000). An der Kopplung zwischen Verwaltung und Produktion geht es nicht nur um Informationsaustausch. Vielmehr wird hier im Sinne der Entscheidungen der Organisation ausgetestet, welche Produktionsplanung von der Produktion tatsächlich leistbar ist, von dieser als Entscheidung übernommen werden, oder auch wie die Entscheidungen in der Produktion so anschließen können, dass tatsächlich das Produkt gefertigt wird, das der Kunde mit der Verwaltung ausgehandelt hat.
Digitalisiert werden also immer Verhältnisse, über die sich a) unterschiedliche Identitäten relationieren bzw. koppeln und die b) im Kontext von Entscheidungskommunikationen stehen und damit dafür entscheidend sind, wie im Betrieb entschieden werden kann.
Obgleich dies vor allem auch in der Forschung häufig unterschlagen wird, ist in den von uns beforschten mittelständischen Industriebetrieben beobachtbar, dass Digitalisierung in vielen Fällen als mehr als planmäßige Technisierung gehandhabt wird. Stattdessen wird jede Digitalisierung durchgängig – ob implizit oder explizit – von zwei Bewegungen begleitet:
Die eine Bewegung beschreibt der Projektleiter von KILPaD Dirk Baecker als Arbeit am Imaginären der Digitalisierung. Die Organisation arbeitet an einer (digitalisierten) Zweitform ihrer selbst im „Entwurfscharakter“ (Baecker 2020, S. 3), die die konkrete Digitalisierung zu motivieren und orientieren in der Lage ist.
Die andere Bewegung ist bereits 1988 von Karin Knorr-Cetina et al. als Laboratisierungsprozess beschrieben worden. In Laboratisierungsprozessen ringe die Wissenschaft, ob die Physik oder die Sexualwissenschaften, vor allem darum, in einer Art „Erzeugungsprozeß“ ihren Untersuchungsgegenständen „Artikulationen zu entlocken“ (S. 89) und diese entsprechend auf ihre Kluft zum sich Artikulierenden hin zu interpretieren. Es geht hier im Kern um „die Einbindung von Naturobjekten in kulturelle Interaktion“ (S. 85). Die Versicherung ob der eigenen Gegenwart kommt damit einem konstruktiven Erzeugungsprozess dieser Gegenwart gleich. Für unsere Frage lässt sich homolog schließen, dass die Digitalisierung ihren Startpunkt immer in einer entsprechenden Erkundung der gegenwärtigen Verhältnisse und ihrer Analogizität findet, um deren Digitalisierung es ihr geht. Keine Digitalisierung ohne den mehr oder minder reflektierten Aufbau eines Verständnisses des zu Digitalisierenden.
Dabei können die Arbeiten am Imaginären und an der Untersuchung des (relativ analogen) Gegenwärtigen erfolgreicher oder weniger erfolgreich gelingen. Es kann ein Imaginär gesponnen werden, das brüchig ist, unvollständig erscheint, und mehr Angst produziert, als dass es orientierende Kraft entwickelt. Laboratisierungsprozesse zum gegenwärtigen Verhältnis können die Intelligenz und Entscheidungsrelevanz gegenwärtiger relativ analoger Verhältnisse hemmungslos unterschätzen und in einer von der Praxis weit entfernten Projekt-Management-Ebene verharren, oder sie können durch Gespräche mit Anwendern vor Ort eine hohe Sensibilität für den konkreten Kontext entwickeln. Dementsprechend versucht sich unser Projekt an der Digitalisierung in einem zirkulären systemischen Prozess, der die imaginäre Arbeit genauso ernst nimmt wie eine möglichst detailreiche und anwendernahe Analyse der bestehenden Verhältnisse und all der strukturellen Kopplungen, die mit dem zu Digitalisierenden in einem Zusammenhang stehen.
Auf dieser Grundlage lassen sich einige Schlussfolgerungen des soziologischen Blicks auf Digitalisierung ziehen:
Die Digitalisierung von Organisationen beschreibt eine soziale Transformation, die sich deswegen vor allem am Anwendern und am Kunden bewähren muss, und sich nicht nur als erfolgreich schätzen kann, wenn etwas technisch funktioniert. Beispiele von Projekten zur prädiktiven Instandhaltung zeigen, dass wenig geholfen ist, wenn alleine Maschinendaten besser zur Verfügung stehen, diese dann von den Instandhaltern aber nicht in angepasste Wartungszeiträume, Ersatzteilbeschaffungen oder Anpassungen der Maschinenbedienung übersetzt werden können.
Die Digitalisierung besticht als Lösung, die immer auch neue Probleme produziert. Wo Arbeitsinstruktionen der Arbeitsvorbereitung für die Produktion durch digitalisierte Werkaufträge effizienter gestaltet werden kann, droht zugleich die über den händisch übergebenem Werkauftrag angelieferte Autorität des langjährigen geachteten Kollegen der Arbeitsvorbereitung verloren zu gehen. Denn dem Arbeitsvorbereiter wird ein schwieriger Auftrag womöglich eher abgenommen als einer digital zugelieferten und damit unpersönlich erscheinenden Auftragsdatei.
Berater und Dienstleister der Digitalisierung helfen nicht immer, den Fokus auf der Transformation der sozialen (Entscheidungs-)Verhältnisse im Zuge der Digitalisierung jenseits seiner technischen Dimensionen zu wahren. Entsprechend widerständig und selbständig müssen Organisationen bei aller Unterstützung von außen an ihrer Perspektive auf die Digitalisierung ihrer selbst arbeiten, anstatt sich diese Arbeit von außen abnehmen zu lassen.
Erfolgsfaktoren der Digitalisierung im Mittelstand
Ausgehend von diesen Einsichten des soziologischen Blicks auf die Digitalisierung der (Produktions-)Organisation lassen sich folgende Rückschlüsse für Erfolgsfaktoren der Digitalisierung im Mittelstand ziehen:
- Der Mittelstand muss seine nicht bestreitbaren Restriktionen in der Ressourcenausstattung in einen umso größeren Kunden- und Organisationsfokus seiner Digitalisierungsvorhaben übersetzen. Nur was den konkreten Anwendern vor Ort und auch dem Kunden hilft, bleibt dann als investitionswürdiges Digitalisierungsvorhaben übrig. Digitale Technik darf weiterhin faszinieren. Die Entscheidung darüber, welches Digitalisierungsvorhaben zu verfolgen ist, informiert sich dann aber über mehr als die technischen Versprechen der entsprechenden Hersteller und Dienstleister.
- Die Stärke des Mittelstands generiert sich vor allem aus seiner Flexibilität und seiner Facharbeiterkultur. Eine gute Digitalisierung des Mittelstands besteht dementsprechend darin, Facharbeit und Flexibilität weiterzuentwickeln und auf breitere Füße zu stellen, anstatt den Facharbeiter auf dem shop floor zum bloßen Helfer zu degradieren oder überbürokratische Unternehmenssoftware einzuführen. Es kommt auf digitale Lösungen an, die analoge Intelligenzen gleichermaßen nutzbar machen wie die Funktion von Technik. Wenn also digitale Werkaufträge angelegt werden, sollten auch Zusatzinformationen wie Zeichnungen oder Auftragsdetails zugänglich werden, und nicht nur das absolut Notwendige. Und wo beispielsweise eine künstliche Intelligenz einzelne Produktionsschritte optimiert plant, wird die Intelligenz des Planungsverantwortlichen besonders wichtig dafür, optimale Übergänge zu den anderen Produktionsschritten zu garantieren, anstatt diese zu überlasten.
- In Großkonzernen kann man sich bisweilen ein schlechtes Change Management im Sinne eines ‚take it or leave it‘ leisten. Der Mittelstand hingegen ist aufgrund unterschiedlicher Faktoren auf seine Mitarbeiter angewiesen. Eine gute Digitalisierung des Mittelstands kann deshalb nur gelingen, wenn das häufig gebetsmühlenhafte Insistieren auf das „Mitnehmen“ oder „Abholen“ vor Ort so ausbuchstabiert wird, dass die Anwender der digitalen Lösung tatsächlich Einfluss auf ihre konkrete Ausgestaltung gewinnen.
- Der Mittelstand zeichnet sich gerade dadurch aus, dass viele MitarbeiterInnen aus eigener Erfahrung genau wissen, was an anderen Stellen der Organisation besonders wichtig ist. Statt dem Denken in Zuständigkeiten und einem Verharren in unternehmensinternen Elfenbeintürmen, steht das pragmatische Lösen von Problemen stärker im Zentrum. Dementsprechend ist es für den Mittelstand entscheidend, Digitalisierungsvorhaben nicht zu neuen Elfenbeinturm-Projekten werden zu lassen und in ein vom shop floor weit entferntes Projektmanagement abzuschieben, sondern diese besonderen Ressourcen der Problemidentifikation und Multiperspektivität weiter zu nutzen. Gute Digitalisierung im Mittelstand zeichnet sich darin aus, was den Mittelstand bis heute so erfolgreich macht: in maximaler Anwendungsnähe.
- Wenn es so ist, dass der Erfolg des Mittelstands sich vor allem aus seiner Flexibilität, seiner Facharbeiterkultur und seinen starken internen Netzwerken speist, dann bedeutet dies vor allem eines: Die Digitalisierung des Mittelstands führt dann zum Erfolg, wenn sie als Projekt der Organisationsentwicklung und nicht als reines Technik-Projekt verstanden wird. Die Fundamente der Flexibilität und des gemeinsamen Arbeitens werden sonst schnell unreflektiert erschüttert, anstatt sie für eine digitalisierende Weiterentwicklung zu nutzen.
- Der Mittelstand wird sich dann erfolgreich digitalisieren, wenn er Reifegradeinschätzungen von BeraterInnen vor allem zum Beginn von Digitalisierungsvorhaben Glauben schenkt, er von da an aber an der ständigen Weiterentwicklung digitaler Lösungen arbeitet. Das Stichwort der agilen Digitalisierung aus unserem Projekttitel KILPaD bezieht sich genau darauf, digitale Lösungen stetig agil weiterzuentwickeln und das Feedback von AnwenderInnen aus Verwaltung wie Produktion responsiv handzuhaben, anstatt es zu ignorieren und sich zu 100 Prozent digitalisiert zu wähnen.
Keine Digitalität ohne leistungsfähige Analogizität: agile analoge Digitalisierung
Gerade in letzterem Aspekt lässt sich begründen, was in der folgenden Abbildung (Abb. 2) mit dem unteren roten Pfeil symbolisiert wird: Für eine auch über die Zeit hinweg erfolgreiche Digitalisierung bedarf es agiler Abgleiche der digitalen Lösungen damit, welche Probleme sie selbst produzieren, oder auch welche Notwendigkeiten und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung auf der analogen Seite von Werkern oder anderen Anwendern wahrgenommen werden. Industrie 4.0 wird im Mittelstand nur Erfolg haben, wenn die Organisationsleistung vollbracht wird, analoge und digitale Intelligenzen in ein neues komplementäres Verhältnis miteinander zu bringen. Das eine kann es nicht ohne das Andere geben.
Eine agile analoge Digitalisierung sollte die Vision der Digitalisierung im Mittelstand beschreiben. Keine rein technisch orientierte einmalige Digitalisierung.
Wohin uns diese skizzenhaft vorgetragenen Hypothesen führen, und welche noch zu verwerfen oder korrigieren sind, wird das kommende Jahr 2021 zeigen. Ich freue mich schon darauf!
Literatur
Baecker, D. (2020), Die Digitalisierung der Arbeit, Diskussionspapier v1.6 Juni 2020, abgerufen am 08. Juni 2020 unter: https://catjects.files.wordpress.com/2020/04/digitalisierung_der_arbeit_v1.6.pdf.
Knorr Cetina, K., Amann, K., Hirschauer, S. & Schmidt K.-H. (1988), Das naturwissenschaftliche Labor als Ort der „Verdichtung“ von Gesellschaft, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17 Heft 2, S. 85-101.
Luhmann, N. (2000), Organisation und Entscheidung, 1. Auflage, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, N. (2018) [1998], Die Gesellschaft der Gesellschaft, 10. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp.