K I L P aD – Use Problems der Digitalisierung der mittelständischen Produktion

K I L P aD – Use Problems der Digitalisierung der mittelständischen Produktion

von Maximilian Locher & Maximilian Brücher

Das KILPaD-Projekt war 2019 mit einer einfachen Annahme gestartet: Die Digitalisierung versetzt bewährte Strukturen der mittelständischen Produktion unter einen Anpassungsdruck, der neue Strukturen entstehen lässt.

Nach der Hälfte der Laufzeit wurden noch keine Patentrezepte für diese Umgestaltung der Produktion gefunden; sie sind auch weiterhin kaum zu erwarten. Zugleich beobachtet sich die Industrie spätestens seit dem Aufkommen des Industrie 4.0-Diskurses vor allem unter den Vorzeichen solcher Patentrezepte, die als ‚Best Practices‘ bezeichnet werden. Als Best Practice wird kommuniziert, was wo besonders gut funktioniert und ökonomische Gewinne einspielt. Damit wird im gleichen Atemzug eine ungebrochene Übertragbarkeit dieser Best Practice(s) auf andere Unternehmens-Kontexte unterstellt.

Im KILPaD-Projekt wurden dahingegen vor allem ‚Use Problems‘ identifiziert. Use Problems beschreiben solche Probleme, die sich überbetrieblich als entscheidende Bezugsprobleme der Digitalisierung zeigen. Der Erkenntnisfortschritt der ersten Projekthälfte von KILPaD bestand maßgeblich darin, sich von den allseits wahrnehmbaren Problemlagerungen und ihren Beschreibungen ein Stück weit zu lösen. Erst hierdurch konnten jene überbetrieblichen Bezugsprobleme in den Blick genommen werden, die sich im Kontext der Digitalisierung zeigen.

Niklas Luhmann hat mit seiner Fundierung der Systemtheorie in der funktionalen Analyse Problemen eine zentrale Funktion gegeben. Anstatt der Welt Essenzen zuzuschreiben, legt Luhmann die Prämisse der Komplexität zugrunde. Ihr zufolge gibt die allerorts sich spezifisch zeigende Komplexität Gründe, gleichsam spezifische Lösungen einzurichten, die einen selektiven Umgang mit diesen Komplexitäten ermöglichen.[1] Auf undurchsichtige – komplexe – Verhältnisse wird mit der Einrichtung eigener Strukturen regiert, die solche Komplexitäten zu reduzieren erlauben.

Relativ stabil beobachtbaren Ausformungen der Welt wird deshalb kein essentialistischer Status zugewiesen. Stattdessen beobachtet die funktionale Analyse solche Stabilitäten als Formen des Umgangs und der Lösung damit bearbeiteter Probleme. Der Vergleich zwischen Praxis-Kontexten ermöglicht es dann, eben jene Probleme miteinander zu vergleichen. Trifft man auf homologe Probleme, werden so die jeweiligen Lösungen als äquivalente Lösungen beobachtbar. Ein Problem, unterschiedliche Lösungen.

Wo also beispielsweise eine bestimmte Rollendefinition als zwingend notwendig erscheint, wird mit der funktionalen Analyse die Kontingenz eben jener Rollendefinition beobachtbar. Die genannte Rollendefinition wird so als eine unter anderen möglichen Formen des Umgangs mit einem zugrundeliegenden Bezugsproblem wie etwa einer großen Verhaltensunsicherheit zwischen Produktion und Kunde beobachtbar. Der Praxis ist der reflexive Zugang zu solchen verbindenden wie trennenden Problemen häufig versperrt. Die eigene Lösung erscheint als notwendig und das spezifische Problem als nur lokal gegeben. Die funktionale Analyse kann genau hier helfen und „>>manifeste<< Funktionen (Zwecke) und Strukturen in den Kontext anderer Möglichkeiten“[2] stellen.

Vor diesem Hintergrund ist der weit verbreiteten Annahme zu widersprechen, dass am meisten zu lernen sei, wenn man sich über Best Practices austausche. Dafür sind mindestens zwei Gründe zu nennen.

Einerseits verdecken Best Practices mit ihrer Strahlkraft häufig die Kontextabhängigkeit ihres Erfolgs. Wenn Lösungen sich aber nur angesichts konkreter lokaler Problemlagerungen als besonders gute Lösungen erweisen, ist jeder Behauptung ihrer Übertragbarkeit mit einem wohl dosierten Misstrauen zu begegnen. Denn wenn ein solches Misstrauen fehlt, findet man sich mitunter in überstürzten Übertragungen auf den eigenen Kontext wieder, bei dem sich am Ende die AnwenderInnen vor Ort ihre alten Probleme zurückwünschen. In solchen Fällen schlägt die Kontextgebundenheit der Best Practice voll zu.

Andererseits wird vielerorts mit einem bloßen Achselzucken auf Best Practices reagiert, wenn ihre Strahlkraft vor allem Misstrauen weckt. Begründet wird dieses Misstrauen dann damit, dass solche Best Practices kaum übertragbar seien, weil im eigenen Betrieb gänzlich andere Bedingungen gegeben sind. In solchen Fällen führt die Kommunikation der Best Practice eher zu einer Zementierung bestehender Verhältnisse als zu deren Reflexion.

Im Gegensatz dazu ermöglicht der Rückbezug auf Use Problems einen gänzlich anderen Austausch. Der Rückgang auf geteilte Probleme lässt im Sinne der funktionalen Analyse beiderseits die Notwendigkeit und die Kontingenz der eigenen Form des Umgangs mit dem jeweils fokussierten Problem reflektieren. Man lernt dann zu verstehen, warum sich eine bestimmte Struktur intern stabil hält und warum in anderen Betrieben mit ähnlichen Problemen ein anderer Umgang gefunden wurde.

So regt der Austausch über Use Problems zu einem Diskurs an, der die Differenz von Ausgangssituationen ebenso ernst nimmt wie die einende Qualität bestimmter Bezugsprobleme. Erst von dieser Basis aus wird ein tiefer gehender Austausch möglich, in dem unterschiedliche Formen der Lösung des einenden Bezugsproblems miteinander verglichen werden können, und man mindestens auf einer reflexiven Ebene neue Freiheitsgrade gewinnt. Um einen solchen Austausch geht es in KILPaD und dieser soll auch über das Projekt hinaus ermöglicht werden. Daher werden im Rahmen des Projekts animierte Videos produziert, die spezifische Umgangsformen mit Use Problems darstellen.

Für diese Videoreihe dienen die im Projekttitel benannten Forschungsbezüge als Struktur. Orientiert an den Operations-Begriffen Kommunikation (K), Innovation (I) und Lernen (L) wird zunächst in jeweils einem Video dargestellt, welche spezifischen Use Problems sich im Zuge der Digitalisierung der mittelständischen Produktion identifizieren lassen. Die einzelnen Videos sind jeweils folgendermaßen inhaltlich aufgebaut:

  1. Use Problem: Was ist ein exemplarisches Beispiel aus dem Projekt zu dem unter diesem Begriff (Kommunikation/Innovation/Lernen) vermuteten Bezugsproblem der Digitalisierung?
  2. Notwendigkeit der Lösung des Use Problems: Auf welches Bezugsproblem verweist dieses Beispiel als Lösung?
  3. Kontingenz der Lösungen des Use Problems: Welche anderen Formen des Umgangs mit diesem Bezugsproblem lassen sich je nach Kontext finden?

Im Anschluss werden auch die weiteren im Projekttitel aufgeführten Facetten des Projekts bearbeitet. So wird mittels zwei weiterer Videos gezeigt, wie die Produktion (P) und die agile Digitalisierung (aD) jeweils als variable Kontexte verstanden werden können, die Folgen dafür haben, welche Bezugsprobleme die Digitalisierung der Produktion für das Kommunizieren, Lernen und Innovieren aufwerfen.

Diese Videoreihe ist als Anregung gedacht, eigene Lösungen sowie Probleme anders zu beobachten. Denn unsere allerorts eingerichteten Strukturen lassen sich nur verändern, wenn sich auch unsere Problembeschreibungen verändern.

Insofern sollen dieser Beitrag und die darauf basierten Videos dazu dienen, den Diskurs in der Industrie an der entscheidenden Schwelle ihrer Digitalisierung anzureichern. Aber auch die mit den Videos vorgeschlagene Auswahl von Bezugsproblemen wird mit der Video-Aufzeichnung selbst einer Bewährung ausgesetzt. Der fortzuführende, dialogische Abgleich mit betrieblichen Realitäten ist unerlässlich.

Für den Diskurs zur Digitalisierung in der Industrie geht es dem hier vorgebrachten Argument zu Use Problems zufolge darum, sich stärker über Probleme zu verständigen und sich gegenseitig danach zu befragen, wie wer warum welches Problem so löst, wie er oder sie es löst. Use Problems könnten dort zur tiefergehenden Reflexion anregen, wo Best Practices die Reflexion abkürzen.

[1] Vgl. Luhmann (1984), S. 89.
[2] Luhmann (1984), S. 88.

Literatur:

Luhmann, Niklas (1984), Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Erste Auflage 1987, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.


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